Von Meng Hsiä wird berichtet
Als ihm zu Ohren kam, dass neuerdings die jungen Künstler sich darin übten, auf dem Kopf zu stehen, um eine neue Weise des Sehens zu erproben, unterzog Meng Hsiä sich sofort ebenfalls dieser übung, und nachdem er es eine Weile damit probiert hatte, sagte er zu seinen Schülern: «Neu und schöner blickt die Welt mir ins Auge, wenn ich mich auf den Kopf stelle.»
Dies sprach sich herum, und die Neuerer unter den jungen Künstlern rühmten sich dieser Bestätigung ihrer Versuche durch den alten Meister nicht wenig. Da dieser als recht wortkarg bekannt war und seine Jünger mehr durch sein blosses Dasein und Beispiel erzog als durch Lehren, wurde jeder seiner Aussprüche beachtet und weiter verbreitet.
Und nun wurde, bald nachdem jene Worte die Neuerer entzückt, viele Alte aber befremdet, ja erzürnt hatte, schon wieder ein Ausspruch von ihm bekannt. Er habe, so erzählte man, sich neuestens so geäussert: «Wie gut, dass der Mensch zwei Beine hat! Das Stehen auf dem Kopf ist der Gesundheit nicht zuträglich, und wenn der auf dem Kopf Stehende sich wieder aufrichtet, dann blickt ihm, dem auf den Füssen Stehenden, die Welt doppelt so schön ins Auge.»
An diesen Worten des Meisters nahmen sowohl die jungen Kopfsteher, die sich von ihm verraten oder verspottet fühlten, wie auch die Mandarine grossen Anstoss. «Heute», so sagten die Mandarine, «behauptet Meng Hsiä dies, und morgen das Gegenteil. Es kann aber doch unmöglich zwei Wahrheiten geben. Wer mag den unklug gewordenen Alten da noch ernst nehmen?»
Dem Meister wurde hinterbracht, wie die Neuerer und die Mandarine über ihn redeten. Er lachte nur. Und da die Seinen ihn um eine Erklärung baten, sagte er: «Es gibt die Wirklichkeit, ihr Knaben, und an der ist nicht zu rütteln. Wahrheiten aber, nämlich in Worten ausgedrückte Meinungen über das Wirkliche, gibt es unzählige, und jede ist ebenso richtig wie sie falsch ist.» Zu weiteren Erklärungen konnten ihn die Schüler, so sehr sie sich bemühten, nicht bewegen.
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Über den Autor
Hermann Hesse
Hermann Hesse war Zeit seines Lebens ein Suchender. Nicht nur sein großes dichterisches Werk, das ihm 1946 den Nobelpreis einbrachte, auch sein Lebenslauf legt Zeugnis davon ab. In seiner Geburtsstadt Calw, wo er am 2. Juli 1877 zur Welt kam, verbrachte Hesse im Kreise der Familie seine Jugendjahre, die prägend blieben und an vielen Stellen Eingang in seine Bücher gefunden haben. Maulbronn, Tübingen und Basel waren weitere Lebensstationen. 1904 zog er in ein altes Bauernhaus in Gaienhofen am Bodensee, um fortan als freier Schriftsteller zu leben. 1911 unternahm er eine Indienreise und übersiedelte kurz darauf in die Schweiz, zunächst nach Bern und 1919 schließlich nach Montagnola (Tessin), wo seine reichste Schaffensperiode einsetzte und er 1962 starb. Die Bewältigung von persönlichen Krisen ist einer der Brennpunkte in Hesses Werk, in dem es aber auch um Fragen der Religion und der Politik geht.