Aus Martins Tagebuch
Vorgestern war der wichtigste Tag meines Lebens. Da habe ich zum ersten Male etwas erlebt und zu spüren bekommen, was ich vorher gar nicht kannte und wovon mir doch jetzt scheint, ich habe es immer und immer gesucht und geahnt, mein Leben lang. Es hängt mit den Träumen zusammen. Diese hatten mich ja schon immer beschäftigt, und oft war ich erstaunt und traurig darüber, wie flüchtig Träume sind, wie schnell sie am Morgen vergehen, wie schüchtern sie vor der leisesten Berührung mit der Vernunft davonlaufen.
Wie oft, wie unendlich oft in meinem Leben, bin ich in meinem Bett erwacht und hatte ein neues Gefühl in mir, etwas Schönes, anderes, unbeschreiblich Neues, Zartes, Liebes, Seltsames, Witziges! Zwischen mir und der ganzen Welt schien eine neue Beziehung aufgegangen zu sein, ein neuer Sinn schien mir geworden, der die Wahrnehmungen meiner alten, gewöhnlichen Sinne ganz neu verband, bestätigte und auch veränderte. Ein Blinder, der an einer Rose riecht und sie betastet, und dem nun plötzlich die Augen aufgehen und zu ersten Mal zum Getasteten und Gerochenen, auch noch das sichtbare Bild der Blume zu eigen wird, der müsste ähnliches empfinden. Ich hatte zum Gesicht, zum Tastsinn, zum Gehör, Geruch und Geschmack noch einen weiteren Sinn, ein weiteres Fühl - und Wahrnehmungsvermögen empfunden, oder erfunden. Wenn ich mich dann besann, so fiel mir oft ein Traum oder der Rest eines Traumes ein, den ich in der Nacht gehabt. Ich hatte fliegen können. Ich hatte eine Geliebte gehabt, die ich zu mir her ziehen und rufen konnte, ohne einen Ton oder einen Wink, die zart und gefühlig, einfach jeder Regung meiner Seele folgte. Ich hatte Luft trinken können wie Wein, oder in Wasser atmen wie in Luft.
Mit dem Gedächtnis an den Traum, leuchtete dann immer die neue Empfindung nochmals innig und verlockend auf, schon mit dem wehmütigen Glanz des Abschiednehmenden und Unwiederbringlichen. Dann kamen die Gedanken hinterher, das völlige Erwachen und Bewusstwerden, und der Traum und sein Glück wurde ferner und unwirklicher, und wenn ich aus dem Bette stieg, war fast alles schon wieder weg und verloren und nichts blieb mir zurück, als ein leises und banges Gefühl von Verlust und Bestohlen sein, gemischt mit einem Gefühl, das ähnlich schmeckte wie schlechtes Gewissen - so, als hätte ich etwas Dummes getan, als hätte ich mich geschädigt und selber betrogen.
Manchmal dachte ich dann, eben das Träumen sei es, das man als Selbstbetrug anklagen und abtun müsse. Es war aber umgekehrt: das Träumen war das Wertvolle, und das Abtun, Richten und Verwerfen des Traumes, war der Unsinn, war die Schädigung. Einige Male war ich schon ganz, ganz nahe bei dieser Erkenntnis, fühlte sie schon wie einen gefangenen Vogel mir in der Hand flattern, und verlor sie wieder, und blieb traurig und verarmt zurück. - Jetzt habe ich sie in Händen, meine neue Erkenntnis, oder Erfahrung, oder wie man es nennen will. Was ich alsdann für mich allein dachte und spann, ist wohl nicht des Erzählens wert. Aber je älter ich wurde und je schaler die kleinen Befriedigungen mir schmeckten, die ich in meinem Leben fand, desto mehr wurde mir klar, wo ich die Quelle der Freuden und des Lebens suchen müsse. Ich erfuhr, dass Geliebt werden nichts ist, Lieben aber alles, und mehr und mehr meinte ich zu sehen, dass das, was unser Dasein wertvoll und lustvoll macht, nichts anderes ist als unser Fühlen und Empfinden. Wo irgend ich etwas auf Erden sah, das man "Glück" nennen konnte, da bestand es aus Empfindungen. Geld war nichts, Macht war nichts. Man sah viele, die beides hatten und elend waren. Schönheit war nichts, man sah schöne Männer und Weiber, die bei aller Schönheit elend waren. Auch die Gesundheit wog nicht schwer; jeder war so gesund als er sich fühlte, mancher Kranke blühte bis kurz vor dem Ende vor Lebenslust, und mancher Gesunde welkte angstvoll in Furcht vor Leiden hin. Glück aber war überall da, wo ein Mensch starke Gefühle hatte und ihnen lebte, sie nicht vertrieb und vergewaltigte, sondern pflegte und genoss. Schönheit beglückte nicht den, der sie besass, sondern den, der sie lieben und anbeten konnte.
Es gab vielerlei Gefühle, scheinbar, aber im Grunde waren sie eins. Man kann alles Gefühl Wille nennen, oder wie immer. Ich nenne es Liebe. Glück ist Liebe, nichts anderes. Wer lieben kann, ist glücklich. Jede Bewegung unsrer Seele, in der sie sich selber empfindet und ihr Leben spürt, ist Liebe. Glücklich ist also der, der viel zu lieben vermag. Lieben aber und Begehren ist nicht ganz dasselbe. Liebe ist weise gewordene Begierde; Liebe will nicht haben; sie will nur lieben. Darum war auch der Philosoph glücklich, der seine Liebe zur Welt in einem Netz von Gedanken wiegte, der immer und immer neu die Welt mit seinem Liebesnetz umspann. Aber ich war kein Philosoph.
Auf den Wegen der Moral und Tugend aber, war für mich auch kein Glück zu holen. Da ich wusste, glücklich machen kann nur die Tugend, die ich in mir selbst empfinde, in mir selbst erfinde und hege- wie konnte ich da irgendeine fremde Tugend mir aneignen wollen! Aber das sah ich: das Gebot der Liebe, einerlei ob es von Jesus oder von Goethe gelehrt wurde, dies Gebot wurde von der Welt völlig missverstanden! Es war überhaupt kein Gebot. Es gibt überhaupt keine Gebote. Gebote sind Wahrheiten, wie der Erkennende sie dem Nichterkennenden mitteilt, wie der Nichterkennende sie auffasst und empfindet. Gebote sind irrtümlich aufgefasste Wahrheiten. Der Grund aller Weisheit ist: Glück kommt nur durch Liebe. Sage ich nun "Liebe deinen Nächsten!" so ist das schon eine verfälschte Lehre. Es wäre vielleicht viel richtiger zu sagen: "Liebe dich selbst so wie deinen Nächsten!" Und es war vielleicht der Urfehler, dass man immer beim Nächsten anfangen wollte.
Jedenfalls: das Innerste in uns begehrt Glück, begehrt einen wohltuenden Zusammenklang mit dem, was ausser uns ist. Dieser Klang wird gestört, sobald unser Verhältnis zu irgendeinem Ding ein andres ist als Liebe. Es gibt keine Pflicht des Liebens, es gibt nur eine Pflicht des Glücklichseins. Dazu allein sind wir auf der Welt. Und mit aller Pflicht und aller Moral und allen Geboten macht man einander selten glücklich, weil man sich selbst damit nicht glücklich macht. Wenn der Mensch "gut" sein kann, so kann er es nur, wenn er glücklich ist, wenn er Harmonie in sich hat. Also wenn er liebt. Und das Unglückliche in der Welt, und das Unglück bei mir selber kam also daher, dass das Lieben gestört war. Von hier aus wurden mir die Sprüche im Neuen Testament plötzlich wahr und tief. "So ihr nicht werdet wie die Kinder" - oder "Das Himmelreich ist inwendig in euch". Dies war die Lehre, die einzige Lehre in der Welt. Dies sagte Jesus, dies sagte Buddha, dies sagte Hegel, jeder in seiner Theologie. Für jeden ist das einzig Wichtige auf der Welt sein eigenes Innerstes - seine Seele - seine Liebesfähigkeit. Ist die in Ordnung, so mag man Hirse oder Kuchen essen, Lumpen oder Juwelen tragen, dann klang die Welt mit der Seele rein zusammen, war gut, war in Ordnung.
Nichts vermag der Mensch so zu lieben wie sich selbst. Nichts vermag der Mensch so zu fürchten wie sich selbst. So entstand zugleich mit den anderen Mythologien, Geboten und Religionen des primitiven Menschen auch jenes seltsame übertragungs - und Scheinsystem, nach welchem die Liebe des Einzelnen zu sich selber, auf welcher das Leben ruht, dem Menschen für verboten galt und verheimlicht, verborgen, maskiert werden musste. Einen Anderen zu lieben galt für besser, für sittlicher, für edler, als sich selbst zu lieben. Und da die Eigenliebe nun doch einmal der Urtrieb war und die Nächstenliebe neben ihr niemals recht gedeihen konnte, erfand man sich eine maskierte, erhöhte, stilisierte Selbstliebe, in Form einer Art von Nächstenliebe auf Gegenseitigkeit. So wurde die Familie, der Stamm, das Dorf, die Religionsgemeinschaft, das Volk, die Nation zum Heiligtum. Der Mensch, der sich selber zuliebe nicht das kleinste Sittengebot übertreten darf - für die Gemeinschaft, für Volk und Vaterland darf er alles tun, auch das Furchtbarste, und jeder sonst verpönte Trieb wird hier zu Pflicht und Heldentum. So weit war die Menschheit bis jetzt. Vielleicht würden auch die Götzenbilder der Nationen mit der Zeit noch fallen, und in der neu entdeckten Liebe zur ganzen Menschheit käme vielleicht die alte Urlehre wieder neu zum Durchbruch.
Solche Erkenntnisse kommen langsam, man windet sich zu ihnen in Spiralen hinan. Und wenn sie da sind, so ist es, als habe man sie im Sprung, im Nu erreicht. Aber Erkenntnisse sind noch nicht Leben. Sie sind der Weg dazu, und mancher bleibt ewig auf dem Wege. Auch ich ahnte den Weg, glaubte ihn bestimmt zu wissen, und kam doch nie so recht vorwärts auf ihm. Es gab Fortschritte und Rückschritte, Eifer und Missmut, Glauben und Enttäuschung. Und vermutlich wird es die immer geben.
Jetzt bin ich einen Schritt weiter, seit vorgestern. Da ist es mir zum ersten Mal geglückt, etwas festzuhalten, was sonst immer auf der Flucht war, etwas eine Weile zu eigen zu haben, was ich sonst nur wie einen fernen Goldvogel fliegen sah. Mein Erlebnis ist dieses: ich habe vorgestern zum ersten Mal den Sinn und das Glück, das Wesen und die Lehre eines nächtlichen Traumes mit in den Tag hineingenommen. Ich hatte stundenlang Beziehungen zur Welt, die man sonst nur im Traume hat. Ich hatte stundenlang Fähigkeiten, die man sonst am Tage nicht hat. Ich werde mich hüten, das zu erzählen. Dies erste Erlebnis ist mir viel zu lieb, viel zu zart, viel zu heilig, viel zu schimmernd und geheimnisvoll golden, als dass ich versuchen möchte, es in die Finger zu nehmen, es mit Gedanken, Worten und Tinte zu beschmutzen. Aber das Erlebnis hat sich wiederholt, gestern und heute. Ich wünsche, dass es sich an hundert und tausend, an allen Tagen wiederhole, es soll aufhören, ein Geheimnis und Wunder zu sein, es soll Tag und Natur werden, soll mir gehören und zur Selbstverständlichkeit werden.
Über den Autor
Hermann Hesse
Hermann Hesse war Zeit seines Lebens ein Suchender. Nicht nur sein großes dichterisches Werk, das ihm 1946 den Nobelpreis einbrachte, auch sein Lebenslauf legt Zeugnis davon ab. In seiner Geburtsstadt Calw, wo er am 2. Juli 1877 zur Welt kam, verbrachte Hesse im Kreise der Familie seine Jugendjahre, die prägend blieben und an vielen Stellen Eingang in seine Bücher gefunden haben. Maulbronn, Tübingen und Basel waren weitere Lebensstationen. 1904 zog er in ein altes Bauernhaus in Gaienhofen am Bodensee, um fortan als freier Schriftsteller zu leben. 1911 unternahm er eine Indienreise und übersiedelte kurz darauf in die Schweiz, zunächst nach Bern und 1919 schließlich nach Montagnola (Tessin), wo seine reichste Schaffensperiode einsetzte und er 1962 starb. Die Bewältigung von persönlichen Krisen ist einer der Brennpunkte in Hesses Werk, in dem es aber auch um Fragen der Religion und der Politik geht.